Es ist wieder soweit: Alle fünf Jahre verwandelt sich die Stadt Kassel im Herzen Deutschlands in einen weltweit beachteten riesigen Ausstellungsparcour. Für 100 Tage heißt es dann für allerlei kunstinteressiertes Volk – von Künstlern über Ausstellungskuratoren bis hin zu Pensionisten-Reisegruppen – mit diversen Plänen ausgestattet durch grüne Auen und grauen „Betonschick“ der Nachkriegszeit zu pilgern. Dass die Besucherinnen und Besucher dabei auch in die ungewöhnlichsten Orte vordringen ist durchaus gewollt. Unterirdische Systeme, Bahngleise und Abbruchhäuser – in Kassel wurde in den letzten Jahrzehnten schon so manche ungewöhnliche städtische Mauerritze vorübergehend mit Kunst gefüllt. Eine Vorgehensweise, die seit Beginn – als die Kunstschau 1955 noch unfreiwillig notdürftig im zerbombten Fridericianum ihren Anfang nahm – Usus ist. Daran hat sich auch bei der aktuellen 14. Ausgabe des mittlerweile zu den weltgrößten Kunstschauen zählenden Großevents nichts geändert.
Einzig, dass man heuer sogar bis in den einen oder anderen Winkel im griechische Athen vorgedrungen ist (nicht immer zur Freude der Kassler und der Athener Bevölkerung). Ein vorübergehendes Erweiterungskonzept, das auf der Idee des diesjährigen Kurators Adam Szymczyk basiert: Griechenland als ein Ort, mit dem sich exemplarisch verhandeln lässt, was in unserer Welt falsch läuft – Neo-Kolonialismus, Neo-Liberalismus, die damit verbundene Ausbeutung, Flüchtlingsströme und die Unfähigkeit Europas mit den Migrationsbewegungen und der kulturellen Vielfalt menschlich umzugehen: so ungefähr lautete die Themenpalette der diesjährigen documenta und damit jener ausgestellten Kunstwerke, mit denen im Frühjahr 2017 in Athen der Zustand unserer Welt verhandelt wurde.
Unterwegs durch Kassel
In Kassel laufen die „Verhandlungen“ derzeit noch bis 17. September weiter. Wobei – und das ist der Haken – so wirklich überzeugen kann die documenta heuer nicht. Zu willkürlich wirken die unterschiedlichen Präsentationen. Zudem fehlt es am sprichwörtlich roten Faden. Nicht zuletzt in Ermangelung eines unübersichtlich gestalteten Katalogs liegt es fast ausschließlich an den Besuchern die unzähligen Verbindungen zwischen Kunstwerken, Themen und Locations (am besten per pedes) mühsam zu erschließen. Doch wo anfangen? Ein Patentrezept die Kunstwerke der über 160 teilnehmenden Künstler zu erkunden, gibt es freilich nicht.
So führt machen Besucher ein erster Schritt vielleicht vom Ottoneum (Deutschlands ältester Theaterbau – heute ein Naturkundemuseum), zur benachbarten documenta Halle – eine Tour von diversen Überlegungen zu den Themen Kartographie, Landnahme und indigene Geschichte hinzu den diversen archaisch wirkenden Masken des aus der Nation der Kwakwaka’waka stammenden Künstlers Beau Dick.
Beim Thema unterschiedlicher Völker verweilend lässt sich ein weiterer Verbindungsstrang – von der documenta Halle in die „Neue neue Galerie“ führend – in der Skulptur „Pile o‘ Sápmi“ von Máret Ánne Sara finden. Für ihre Arbeit „verwebte“ die Künstlerin Dutzende von Rentierschädeln (allesamt mit Einschusslöchern) zu einer Art Vorhang und verweist damit auf einen Beschluss der norwegischen Regierung die Rentierherden (Lebensgrundlage vieler Sámi) zu dezimieren. Neben Theo Eshetu großformatigen „Videogemälde“, das sich der Aufteilung der Welt durch geografische Gestaltung widmet, und Dan Petermans Installation aus Eisenbarren in Säcken eine der visuell beindruckendsten Arbeiten, die in dem vorübergehend zur Ausstellungshalle umfunktionierten Postgebäude unterbracht sind. Der im so genannten brutalistischen Stil errichtete Funktionsbau ist einer der interessantesten Orte, die im Zuge der documenta heuer bespielt werden. Wer den Weg hierher geschafft hat, sollte auf jeden Fall auch noch der begrünten Kantine im Obergeschoß einen Besuch abstatten. Mit frischen Fruchtsäften gestärkt lässt sich die Kraft aufbringen zum nächsten Ausstellungsort weiterzuziehen – beispielsweise von der „Neuen neuen Galerie“ in die „Neue Galerie“, wo Fragen zum Nationalstaat sowie zu Auflösung und Verlust verhandelt werden.
Das 1877 eröffnete Gebäude, das bereits in den vergangenen Jahren als Ausstellungsort für die documenta fungierte, wird heuer erstmalig ganzflächig im Rahmen der Kunstschau bespielt. Erwähnenswert ist hier vor allem das Projekt „Rose Valland Institut“ zur Auffindung von noch immer nicht registriertem Raubgut der Nationalsozialisten der deutschen Künstlerin Maria Eichborn.
Kunst außen wie innen
Von der „Neuen Galerie“ – einem der wenigen in historischer Bausubstanz erhaltenen beziehungsweise wieder aufgebauten Gebäude Kassels – ist es nur mehr ein Katzensprung zum Zentrum der Stadt. Der Ende des 18. Jahrhunderts im Zuge der Stadterweiterung angelegte Friedrichsplatz, der von Nationalsozialisten zur Demonstration politischer Macht missbraucht wurde, ist heute nicht nur städtisches Zentrum, sondern bildet mit dem renovierten Fridericianum jedes Jahr aufs Neue das schlagende Herz der documenta. Bevor man die Schau im Inneren des ersten öffentlichen Museums Europas und der Geburtsstätte der Kunstschau erkundet, gilt es allerdings schon am Weg dorthin die Augen offen zu halten. Der Tradition vergangener Kunstschauen folgend wurden auch dieses Jahr wieder zahlreiche Interventionen im öffentlichen Raum vorgenommen. So stößt, wer zum Beispiel den Gang durch die Karlsaue wählt unweigerlich auf ein Stück sich selbst überlassener Erde. Aufgeschüttet wurde der Haufen, der Platz für allerlei Wildwuchs bietet, von Österreichs „Natur-Künstler“ Nummer eins: Lois Weinberger.
Auf dem Friedrichsplatz selbst lenkt „Der Parthenon der Bücher“ von Marta Minujín (neben der vom ghanaischen Künstler Ibrahim Mahama in Jutesäcke verpackten Torwache das großflächigste Kunstwerk auf der documenta) die Aufmerksamkeit auf sich. Zum Lieblingskunstwerk vieler wurde heuer allerdings eine andere Installation: Hiwa K. aus orangen Röhren bestehende Konstruktion für Obdachlose fasziniert Jung und Alt auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Künstler selbst hat auf seiner Flucht in solchen Röhren Unterschlupf gefunden.
Von Flucht, Migration und dem Fremdsein
Dermaßen auf das Thema Flucht eingestimmt lassen sich im Fridericianum eine weitere Anzahl an Kunstwerken, die sich mit Migration, Bewegung und Fremdsein auseinandersetzen, finden. Die im Gebäude gezeigten Objekte stammen allesamt aus dem griechischen Museum EMST (das Museum harrt aufgrund von finanziellen Schwierigkeiten noch seiner Eröffnung in der griechischen Hauptstadt). Aus der Sammlung heraus stechen vor allem Kendell Geers großflächige Installation aus Nato-Draht „Acropolis Redux“ sowie Janine Antonis Performance-Objekt „Slumber“, in dem die Künstlerin in den Jahren 1993 und 2000 schlief und ihre nächtlichen REM-Aufzeichnungen tagsüber in eine Decke webte. Unbedingt verweilen sollte man auch vor der Zweikanal-Videoprojektion „I Soldier“ aus dem Jahr 2005 von Köken Ergun. Der Filmemacher nimmt die Feierlichkeiten zum türkischen Nationalfeiertag in den Fokus. In Zeiten von erstarkenden Nationalismus aktueller denn je.
Nicht ausgelassen werden – alleine schon aufgrund des abenteuerlichen Charakters – sollte auch ein Ausflug in den „Unterirdischen Bahnhof“ – eine aufgelassene Straßenbahnstation beim ehemaligen Hauptbahnhof, der seit 1995 als Kulturbahnhof betrieben wird. Durch einen Container geht es in die Tiefe. Einmal auf die Dunkelheit eingestimmt lohnt sich vor allem bei Michael Auders Vierzehnkanal-Digitalvideo-Installation “The Course of Empire“ zu verweilen. Den Motti der diesjährigen documenta treu thematisiert seine Arbeit kolonialistische Invasionen, Landraub und die Ausbeutung von Ressourcen. Mit zugekniffenen Augen und aufgespannten Ohren heißt es schließlich am anderen Ende des Bahnhofs bei Zafos Xagoraris Begrüßungsschild „Willkommen“ wieder aus dem Untergrund aufzutauchen. Das Ende oder für manche auch der Anfang einer Kunstschau, die sich viel vorgenommen hat, den Problemen unserer Welt aber leider nur wenig Nachhaltig Wirkendes entgegenzusetzen hat.
documenta 14
noch bis 17. September an diversen Orten in Kassel
Nähere Info unter: https://www.documenta.de/
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